Während Mindhunter sich den Gedankengängen von Serienmördern in den 1970ern widmet, beschäftigt sich seit Donnerstag eine neue Netflixserie mit einem ähnlichen Thema: In Alias Grace folgen wir einer verurteilten Mörderin im Toronto des Jahres 1859. Wie Mindhunter basiert die Serie lose auf wahren Begebenheiten. Durch die Feder von Sarah Polley und die Inszenierung von Mary Harron (American Psycho) tauchen wir die Psyche der mutmaßlichen Mörderin ein. Wie gut das funktioniert, könnt ihr hier nachlesen.
Anmerkung: Alias Grace basiert zwar auf dem gleichnamigen Roman von Margaret Atwood (The Handmaid's Tale), wird aber ohne Bezug zum Buch bewertet.
Der Erste, der einfach nur zuhört
Alias Grace beginnt mit der Stimme der Hauptfigur Grace Marks (Sarah Gadon). Seit 15 Jahren sitzt sie in Toronto im Kingston Penitentiary ein. Ihr Urteil: lebenslange Haftstrafe für den Mord an ihren Arbeitgebern. Täglich pendelt sie zwischen Gefängniszelle und dem Haus des Governours hin und her, in dem sie zusätzlich Dienst tut. Zu Beginn rekapituliert sie, welche Stempel und Bezeichnungen ihr aufgedrückt wurden. Sie sei eine kaltblütige Mörderin, sei berechnend und hinterlistig, sei ein dummes Kind. Dann die Frage: "Wie kann ich all das auf einmal sein?"
Genau das soll Grace' neuer Gesprächspartner (Edward Holcroft) herausfinden. Denn die grau-monotone Routine wird jäh unterbrochen: Ein junger Arzt steht vor ihrer Zelle. Dr. Simon Jordan ist sein Name. Er ist gekommen, um Grace' Geschichte aus erster Hand zu hören. Quasi in der Rolle eines Psychoanalytikers versucht er, Licht in den nie ganz geklärten Fall zu bringen und womöglich sogar eine Begnadigung für Grace zu erwirken. Grace ist anfangs verschreckt, kennt sie an psychologischer Behandlung doch nur die Gewalt der Irrenanstalt. Durch die unerwartete Sanftheit des Doktors beginnt sie letztlich trotzdem zu reden. Dr. Jordan, wie sie dem Publikum erklärt, ist der erste, dem gegenüber sie das Gefühl hat, nur das Richtige zu sagen.
Wie baue ich eine Mörderin?
Wir müssen uns jedoch gedulden, ehe Grace von der eigentlichen Tat erzählt. Die gesamte 1. Folge von Alias Grace über erfahren wir nicht einmal, wer genau wie ermordet wurde. Nur wenige, kurz aufblitzende Flashback-Szenen geben uns einen groben Rahmen. Das mag neugierig machen, ist aber erst einmal verwirrend. Zudem verschweigt sie uns und dem Doktor einiges, wie etwa die Bedeutung ihrer Freundin Mary (Rebecca Liddiard) in ihrer Geschichte. Generell wird uns nichts umsonst hingeworfen, was Grace' eingeigeltem Schutzhaltungszustand geschuldet zu sein scheint. Oder ...?
Also machen wir erst einmal einen Ausflug zu Graces' Reise und Ankunft in Kanada. Die ist an allen Ecken und Enden geprägt von Gewalt. Für die Zeit und die Umstände alltäglich, fühlt sich die Erzählung doch sehr an, als hätte jemand einen Legobausatz ausgebreitet. "Wie baue ich eine zukünftige Mörderin?" steht auf der Verpackung.
Sie enthält all die schönen Bausteine der viktorianischen Zeit: Die grausige, von Entbehrungen geprägte Schiffsreise ins vermeintlich gelobte Land. Das gelobte Land, das sich als schmutziges Elend entpuppt. Der Vater, der seine alkoholgetränkte Gewaltbereitschaft an der Tochter auslässt. Die kleinen Geschwister, die mit hilfesuchenden Rehaugen zur großen Schwester aufblicken und die Anstellung in einem Herrenhaus, in dem sie Geld verdienen soll, um den Rest der Familie zu ernähren.
Diese harte Vergangenheit könnte einen Zuschauer von Alias Grace trotz ihrer Überstrapazierung emotional durchaus mitziehen. Doch dafür fehlt an einigen Stellen (wenn auch nicht immer) ein entscheidendes Element: Atmosphäre. Grace soll selbst erzählen, so die Prämisse. Das tut sie fast permanent und buchstäblich. Beinah jede Szene erhält eine umschreibende Narration. So können die langen Dialoge zwischen ihr und Jordan nur schwer wirklich fesselnd werden.
Dank der laut ausgesprochenen Gedanken in fast jedem Moment fällt es schwer, wirklich die gesamte Länge des Gesprächs über aufmerksam zu bleiben. Dabei sind die beiden Hauptdarsteller ausgesprochen überzeugend in ihren Rollen. Edward Holcroft entflieht erstaunlich leicht der Rolle des Posh Barstards aus Kingsman. Sarah Gadon verleiht Grace einen durchdringenden Blick zum Zuschauer hin, hinter dem unterdrückte Wut, Hilflosigkeit und Unverständnis gegenüber der Welt schwelen. Dadurch und durch die Inszenierung der Unterhaltung wäre in Alias Grace also eigentlich das Potential für mit Westworld vergleichbarem Tiefgang da. Genutzt wird das aber eben nur selten.
Schöne Bilder, wenig Biss
In den ab und an auftauchenden, intensiv und schön geschnittenen Montagen ist das Voiceover tatsächlich angebracht und wirkungsvoll. Doch in Momenten, in denen die Bilder die emotionale Botschaft übernehmen sollten, nach der goldenen Regel "Show, don't tell" des Filmemachens, bricht die Erzählung den Bann. Nur ganz selten, etwa zur Bestattung der auf See verstorbenen Mutter, dürfen wir einfach nur erleben.
Dies ist übrigens auch eine der wenigen Szenen, in denen volle Farbsättigung und Kontraste einsetzen und das Bild deutlich greifbar machen. Alias Grace erreicht weder die düstere Dreckigkeit eines Taboo, noch die weite Farbpalette eines Penny Dreadful, die dieselbe Ära abbilden. Stattdessen sind Weichzeichner und Pastell an der Tagesordnung. Man sollte meinen, blauer Himmel und voll farbgesättigte Stoffe wurden erst im 20. Jahrhundert erfunden.
Neugierig ja, gefesselt vielleicht
Trotz allem wartet Alias Grace immer wieder mit intensiven Momenten zwischen den Hauptcharakteren auf, nicht zuletzt dank der spielfreudigen Besetzung. Die Rahmenbedingungen für eine spannende, tief persönliche Geschichte, die sicherlich einige Überraschungen bereithält, sind vorhanden. Grace ist offensichtlich keine kaltblütige Mörderin, verschweigt uns aber einiges. Wer über die atmosphärischen Mankos hinwegsehen kann, dürfte hier noch einiges zu entdecken haben.
Alle sechs Folgen der 1. Staffel von Alias Grace sind auf Netflix zu sehen.
Was haltet ihr von Alias Grace?
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